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Geschichte

Vortrag zum 125-jährigen Bestehen des Psychosozialen Hilfsvereins Heppenheim e.V.
von Dr. Dieter K. L. Marquetand (1999)

Der Weg der Psychiatrie zur Sozialpsychiatrie und die Entwicklung des Hilfsvereins in diesem Zusammenhang.

Die Geschichte der Psychiatrie ist erst in neuerer Zeit die Geschichte von Kranken und Krankheiten, bei denen auch deren soziale Gegebenheiten wichtig genommen werden.

Die großen griechischen Ärzte und ihre römischen Schüler waren extreme Somatiker. Krankheiten waren Angelegenheiten des Einzelnen und Folge körperlicher Fehlregulationen. Die Prognose psychischer Erkrankung war allenfalls am Rande Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse.

Die Häufigkeit der Rückfälle, die oft bleibenden Wesensänderungen, die echte oder vermeintliche Unheilbarkeit bestimmter Erkrankungen führte zu der Auffassung, der Arzt habe das moralische Recht ihre Behandlung abzulehnen.

Die Auffassung war bis in das 18. Jahrhundert hinein herrschende Lehrmeinung und führte dazu, dass chronisch psychisch Kranke, sofern sie überhaupt hospitalisiert waren, nicht in Krankenhäusern und nicht unter ärztlicher Obhut waren.

Wer diesen historischen Hintergrund kennt, wird bei der Betrachtung der heute wieder vorwiegend nicht-ärztlich geleiteten extramuralen Einrichtungen hellhörig und hoffentlich auch nachdenklich.

So nimmt es auch nicht Wunder, dass die Psychiatrie des Mittelalters weitgehend keine ärztliche Angelegenheit war, sondern jene von Priestern und priesterlichen Hexenverfolgern und nur dort, wo die arabische Medizin im Abendland wirksam werden konnte, gab es einzelne Spitäler für sogenannte Irre.

Über 1000 Jahre hinweg galten alle wesentlichen psychischen Abnormitäten als Werke des Teufels und erst die berühmten Ärzte der Renaissance wie z. B. Paracelsus wagten es, Geisteskrankheiten mit natürlichen Mitteln zu behandeln.

Während die meisten damaligen wissenschaftlichen Abhandlungen über psychisch Kranke sich noch ausführlich mit der Existenz des Teufels, der Hexen und deren Einfluss auf das Sexualleben und die Psyche befassen, versucht Paracelsus wenigstens eine erste psychopathologische Beschreibung der Krankheiten. Dennoch münden auch seine psychohygienischen Ratschläge immer noch in der Aufforderung, Verrücktheit durch Beichte zu vermeiden oder die Kranken zu verbrennen, damit sie nicht Werkzeug des Teufels werden.

Daran ändert sich auch im 17. Jahrhundert wenig. Jene Krankheiten, die wir heute Psychose nennen, bleiben bis Ende des 18. Jahrhunderts dem Zugriff der Mediziner entzogen. Allerdings befasst man sich nun zunehmend mit jenen Erkrankungen, die wir heute neurotisch nennen.

So beschreibt Thomas Trotter zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass 2/3 Drittel der Sprechstunden-Patienten neurotische Patienten seien, auch wenn er noch andere Fachausdrücke benützte. Dies sind allerdings vorwiegend Kranke der gehobenen Stände, die sozial und finanziell abgesichert sind, und bei denen eine krankheitsbedingte Verelendung kaum vorkommt. Nach wie vor stellt ärztliche Vorgehensweise das kranke Individuum in den Mittelpunkt, seine Umgebung und sozialen Bedingungen finden keine Beachtung.

Es erinnert an die psychiatrische Aufbruchzeit im Gefolge der 68er Unruhen unseres Jahrhunderts, wenn man die ersten Schritte in eine neuzeitliche Psychiatrie Anfang des 18. Jahrhunderts betrachtet. Der mit der Aufklärung verbundene grenzenlose Optimismus und Glauben an nie endende Möglichkeiten der Verbesserung war typisch für das 18. Jahrhundert und auch für meine Studentengeneration.

Auf dieser Basis wurde Ende des 18. Jahrhunderts der fatalistische Glauben an die Unheilbarkeit der Irren überwunden, so wie wir nach 1968 den Glauben an die Notwendigkeit psychiatrischer Großkrankenhäuser überwanden.

Das Entwicklungstempo war früher allerdings langsamer. Die Kranken verbleiben noch lange in gefängnisähnlichen Anstalten, zusammen mit Verbrechern und Asozialen. Sie wurden dort aber von ihren Ketten befreit und als gesonderte Gruppe, nämlich als Kranke, betrachtet.

Da die Aufklärung durchaus als Mutter der Sozialwissenschaftlichen betrachtet werden kann, nimmt es auch nicht Wunder, dass im 18. Jahrhundert erstmalig soziologische Theorien über die Verursachung der Geisteskrankheiten auftreten.

Dennoch ist die Erforschung psychischer Erkrankung noch keine Angelegenheit, die innerhalb der Universitäten betrieben wurde. Die Psychiatrie bleibt noch längere Zeit pragmatisch orientierten Ärzten außerhalb der Universitäten vorbehalten und noch heute leidet unser Fachgebiet unter der Spaltung zwischen einer Psychiatrie innerhalb der Universitäten, welche ständig in Gefahr ist, im Elfenbeinturm zu verharren und einer Psychiatrie außerhalb der Universitäten, die sich gerne einer kritisch wissenschaftlichen Betrachtung, manchmal sogar jeglicher Kritik entzieht.

Was hat dies aber alles mit dem Psychosozialen Hilfsverein und seiner Geschichte zu tun? Dieser Verein ist ein kleines Mosaiksteinchen in einem Flickenteppich von Hilfsmaßnahmen, die Ende des 19. Jahrhunderts begannen und bis zum ersten Weltkrieg einen teilweise bis heute nicht wieder erreichten Höhepunkt erreichten.

Sie nahmen ihren Ausgang Ende des 18. Jahrhunderts in den beiden großen Anstalten bei Paris Bicetre und Salpetriere, in denen Pinel nicht nur die geradezu sprichwörtlichen Ketten abschaffte, sondern eine Fülle von organisatorischen Maßnahmen ergriff, die dazu führten, dass diese Anstalten erstmalig im heutigen Sinne als Krankenhäuser bezeichnet werden konnten.

Pinel war der Typus des auch heute noch modernen Sozialpsychiaters. Er war in der Lage, den weiten Bogen zu spannen zwischen der psychiatrischen Wissenschaft um nicht zu sagen dem psychiatrischen Vordenker einerseits und dem in das Gemeinwesen hinaus gehenden pragmatischen Arztes andererseits, der als Theoretiker und Pragmatiker gleichermaßen Einfluss auf die jeweils Mächtigen und damit die psychiatrie-spezifischen Investitionen und Gesetzgebung nahm.

Dieses berufliche Selbstverständnis war prägend für eine Fülle von späteren Anstaltsdirektoren und unter ihnen auch für den inzwischen in Heppenheim fast legendären Geheimrat Ludwig, dem Gründer der hiesigen Anstalt und des rechtlichen Vorläufers unseres Hilfsvereines.

Das 19. Jahrhundert brachte für alle Wissenschaften, so auch die Psychiatrie einen bis dahin ungeahnten Aufschwung. Alle bisher in unserem Fachgebiet relevanten Theorien finden in der damaligen Zeit einen Vorläufer. Alles wurde schon einmal in irgendeiner Form angedacht. Vieles, was wir heute als bahnbrechende Errungenschaft der Nachkriegszeit feiern, ist bei Lichte betrachtet allenfalls eine Weiterentwicklung ohne echten Neuerungswert. Die Sozialpsychiatrie jedenfalls ist nicht neu, nur ihre Bezeichnung.

Mit anderen Worten, die Sozialpsychiatrie beginnt spätestens mit Pinel, und Esquirol in Frankreich und mit Roller in Deutschland sowie Ludwig in Heppenheim. Sie ist auch nicht alles, wie manche heute glauben machen wollen, allerdings im Alltag Besonders wichtig.

Da ich aber etwas zu unserem Hilfsverein sagen soll, vernachlässige ich bewusst alle anderen, ebenfalls wichtigen Psychiatriezweige, die damals einen nicht minder starken Aufschwung nahmen.

Ich bin allerdings der Meinung, dass Sozialpsychiatrie eine jener Grundlagen ist, ohne die öffentliche Gesundheitsfürsorge nicht möglich erscheint. Warnend sie aber auch angefügt, dass die Missachtung all jener psychiatrischen Erkenntnisse, die nicht Sozialpsychiatrie sind, eine Reduktion der Krankenbehandlung auf sozialpsychiatrische Gschaftlhuberei nach sich ziehen und – viel schlimmer noch – getreu den Parkinsonschen Gesetzen führt die Reduktion der Psychiatrie auf Sozialpsychiatrie zu einer Aufblähung der Organisation in der Psychiatrie, die sich zunehmend mit sich selbst beschäftigt.

Zunächst aber zurück zu einer Zeit in der diese Gefahr noch nicht bestand. Anfang des letzten Jahrhunderts und insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blühte die Psychiatrie in Deutschland. Überall wurden neue Anstalten gegründet. Die vorbildlichste im süddeutschen Raum war die heute nicht mehr existierende Anstalt Illenau, welche in klarer Abgrenzung zu den Universitäten im geographischen Mittelpunkt zwischen den badischen Universitätsstädten Heidelberg und Freiburg von Christian Roller gegründet wurde.

Während Wilhelm Griesinger, einer der Stammväter der deutschen Psychiatrie, von der noch heute existierenden Anstalt Winnenden bei Stuttgart ausging und mit seiner Tätigkeit in Tübingen, Zürich und Berlin die beschreibende universitäre Tradition der deutschen Psychiatrie prägte, waren es Menschen wie Roller, die von Anfang an eine möglichst perfekte Funktionsfähigkeit der Krankenhäuser und darauf basierend möglichst optimale Heilerfolge auf ihre Fahne geschrieben hatten.

Typisch für diese Spezies moderner Psychiater war die Aufgeschlossenheit für alle fachlichen Ideen, die sich praktisch anwenden ließen. Sie hatten organisatorisches Geschick und ein sicheren Instinkt für das jeweils politisch Machbare. Kennzeichnend für diesen Typus junger Psychiater war auch eine ungeheure Dynamik mit der sie es verstanden, die jeweils Mächtigen von ihren Ideen zu überzeugen.

Während der Universitätspsychiater Griesinger in seinen Schriften noch lange hin- und herrätselte, ob man Anstalten für heilbare Irre von jenen für unheilbare Irre trennen sollte, waren es Menschen wie Georg Ludwig, die darüber nicht lange philosophierten, sondern dies einfach forderten.

Damit komme ich zur Heppenheimer Entwicklung. Georg Ludwig hatte für deinen Werdegang günstigste Bedingungen. Sein Vater war angesehener Konsistorialrat in Darmstadt und Abgeordneter in der Ständevertretung. Das politische Handwerk war ihm sozusagen in die Wiege gelegt. Die moderne Psychiatrie begegnete ihm in Heidelberg in der Person von Roller sowie in Gießen in der Person Franz von Rietgen, und da sein Schwager Franz Hohenschild Direktor des Landeshospitals Hofheim war, ergab es sich quasi wie von selbst, dass er dort als Arzt tätig wurde.

Das Landeshospital Hofheim, besser vielleicht unter dem Namen Goddelau bekannt, war ursprünglich zur Versorgung von körperlich Kranken gedacht, nahm aber nach 1837 nur noch psychisch Kranke auf. Es wurde notwendig, den jungen Ludwig zur Ausbildung in die Illenau zu Roller zu schicken, wo er eine typisch sozialpsychiatrische und naturwissenschaftlich orientierte Ausbildung erhielt.

Bereits im Alter von 29 Jahren wurde er Ärztlicher Direktor des Landeshospitals Hofheim und sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass in altem Gemäuer schwer moderne Psychiatrie zu betreiben war. So entstand die Idee, eine neue Anstalt nur für heilbare Kranke, d. h. ein reines Krankenhaus zu fordern. Er hatte damit auch Erfolg beim Großherzog. Es ist aber typisch für die Untiefen der Ministerialbürokratie mit Ihrem technokratischen Versorgungsdenken, dass letztlich nur eine modernere Variante von Goddelau, nämlich eine Heil und Pflegeanstalt genehmigt wurde.

Die ursprüngliche Idee Ludwigs von der reinen Heilanstalt hat aber dann doch in der Folgezeit den Unterschied zwischen den beiden Anstalten geprägt und mit dazu beigetragen, dass wir in Heppenheim viel früher als in anderen Anstalten praktisch keine Pflegefälle mehr hatten.

Im Januar 1866 eröffnete die Landesirrenanstalt Heppenheim unter der Leitung Ludwigs ihre Pforten. Bereits vier Jahre vorher, 1862 hatte Georg Ludwig, damals noch in Goddelau, einen ersten Unterstützungsverein ins Leben gerufen, über dessen Schicksal wir leider wenig wissen.

Am 9. Mai 1874, an seinem eigenen Geburtstag, gründete er dann gleich zwei neue Unterstützungskassen, eine für die Landesirrenanstalt in Heppenheim und eine für das Landeshospital Hofheim. Dies war die Geburtsstunde jenes Vereines, in dessen Rechtsnachfolge der psychosoziale Hilfsverein Heppenheim heute noch steht.

Mit großem Aufwand wurde die Werbetrommel gerührt. Öffentlich wurde um milde Gaben zur Gründung und Erhaltung zweier Unterstützungskassen für bedürftige Pfleglinge des großherzoglichen Landeshospitals zur Hofheim und der großherzoglichen Landesirrenanstalt Heppenheim geworben.

Die Idee hierzu lag auf der Hand. Moderne Psychiatrie ist nun einmal nicht zu machen, wenn die krankheitsbedingte Verelendung der Kranken nicht abgewendet werden kann. Da es damals keine allgemeine Absicherung für Kranke gab und die meisten Menschen sich noch nicht einmal einen Krankenhausaufenthalt leisten konnten, mussten Psychiater, deren Interesse nicht nur das Wohl reicher Kranken war, notgedrungen dafür sorgen, dass das Geld für die soziale Absicherung ärmerer Patienten irgendwie beigebracht wurde.

Damit zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt der Sozialpsychiatrie: Ich denke, es ist die Aufgabe der Psychiater, ein wachsames Auge dafür zu haben, was fehlt, und mit Einsatz größtmöglicher Kreativität dafür zu sorgen, dass das was fehlt unter geschickter Ausnützung der jeweiligen Gegebenheiten zu Verfügung gestellt wird.

Die Idee, einen Verein zu gründen, um eine juristische Person zu haben, mit Hilfe deren Sinnvolles geleistet werden kann, ist somit nicht neu. Die Sozialpsychiater des ausgehenden 20. Jahrhunderts haben sie nicht erfunden. Sie haben selbst die Effektivität und Dimension der Hilfsvereine des ausgehenden letzten Jahrhunderts nie wieder erreicht.

Psychiatrische Hilfsvereine gibt es inzwischen landauf landab. Es gibt Bundesvereinigungen der Hilfsvereine und es gibt diese Vereine in vielfacher Variation. Kein Krankenhaus, an dem nicht mindestens ein solcher Hilfsverein etabliert ist, keine größere Stadt, in der nicht mindestens einer dieser Vereine segensreich wirkt.

Wie tatkräftig Georg Ludwig und seine Helfer aber waren, wird deutlich, wenn man sieht, dass die zwei ursprünglichen Unterstützungskassen bereits 1886 zu einer landesweiten Unterstützungskasse der hessischen Landesirrenanstalten, dazu gehörte auch Gießen, ausgeweitet wurden. Seit 1897 firmiert dieser Verein daher unter dem Namen Hilfsverein für Geisteskranke in Hessen. 1908 wurde die Heil- und Pflegeanstalt Alzey in dem damals zu Darmstadt gehörenden Rheinhessen mit integriert. Bald gehörte es zum guten Ton, dass praktisch jeder bessere hessische Bürger Mitglied in diesem Hilfsverein war. Die Gesamtzahl der Mitglieder betrug um die Jahrhundertwende 60.000, d. h. praktisch alle, die damals in Hessen nennenswert Steuern zahlten, waren auch gleichzeitig Mitglieder im Verein. Die einzelnen Vereinsmitglieder waren entsprechend der kommunalen Gliederung gruppiert. Es gab Vertrauensmänner, die für jeweils eine oder mehrere Gemeinden zuständig waren und deren Namen in den öffentlichen Mitteilungsblättern bekannt gegeben wurden. Sie waren Ansprechpartner in den Gemeinden fungierten als Mittelsmänner für die jeweilige Anstalt. Sie hatten die Aufgabe, sich um die entlassenen psychisch Kranken zu kümmern und soweit die Kranken in den Anstalten waren, war es ihre Aufgabe, sich um deren zurückgebliebenen Familien zu kümmern.
Sie versorgten die Familien und die Kranken nicht nur mit dem nötigen Geld, sondern dort wo Familien fehlten, sorgten sie auf für die Aufnahme von psychisch Kranken in Gastfamilien, d. h. ein sozialpsychiatrisches Hilfssystem mit minimalen Kosten und minimalen bürokratischen Aufwand war bereits Ende letzten Jahrhunderts etabliert. Wir können heute davon nur träumen. Die Parkinsonschen Gesetze haben uns längst eingeholt.

Wie modern die Ideen dieses Hilfsvereins waren, wird vielleicht deutlich, wenn ich Ihnen zitiere, wie es unter anderem im Gründungsaufruf vom 9. Mai 1874 hieß: Zitat:

„Wir wollen dem wiedergenesenden unbemittelten Pflegling den Austritt aus der Anstalt und den Rücktritt in die bürgerliche Gesellschaft erleichtern und ihm de Weg zu dem Vertrauen des Publikums und zu seiner gesicherten Existenz bahnen. Es ist ja bekannt, dass der wiedergenesene Irre seiner Zukunft mit banger Sorge entgegensieht, denn welchem Misstrauen, welchen Vorurteilen begegnet er! Unsere Kasse soll ihm das Bewusstsein verschaffen, dass ihn eine sichere und feste Hand auch dann noch führt und stützt, wenn der die Anstalt verlassen hat!“

Nun beschränkte sich Georg Ludwigs Aktivität und damit auch die des Hilfsvereins keineswegs nur auf die materielle Sorge für psychisch Kranke und deren Angehörige, die Verhinderung einer stationären Wiederaufnahme lag ihm ebenso am Herzen wie auch die möglichst frühe stationäre Aufnahme zur Verhinderung negativer Krankheitsentwicklungen.

In gleicher Weise begegnet einem schon damals der Gedanke einer möglichst raschen Entlassung aus einer Anstalt: Zitat: „Je länger man den Geisteskranken in der Anstalt belässt, um so mehr wird er von der Pflege der Anstalt abhängig und um so schwerer fällt es ihm, nach dem Austritt aus der Anstalt seine Selbständigkeit wieder zu gewinnen. Der ihn bisher auf Schritt und Tritt begleitende Stütze der Anstalt beraubt, gerät er nun bald in Not und wird zu leicht von neuem geisteskrank.“

Aber nicht nur für jene Kranken, die wieder nach Hause zurück kehren konnten, wurde gesorgt und gedacht, sondern auch für jene, deren volle Genesung nicht zu erwarten war. Für jene galt: (Zitat)

„…… wo es nicht möglich ist, einen Kranken dauernd oder für immer aus der Anstalt zu entlassen, erscheint der Versuch nur umso mehr geboten, diesen Kranken die Vorteile des Lebens außerhalb der Anstalt (wenigstens) zeitweise zu verschaffen.“

Dies alles materiell abzusichern war Aufgabe des Hilfsvereins, eine Aufgabe die heute durch unser Sozialsystem recht ordentlich gelöst ist.

Ludwig dachte weit voraus. Dies gilt nicht nur für seine Forderung nach einer reinen Heilanstalt. Selbst noch 1985, d. h. zum Zeitpunkt der Gründung des jetzigen psychosozialen Hilfsvereins war eine weitere Idee, die Georg Ludwig schon damals hatte, zumindestens in unserer Region noch nicht umgesetzt. Es war die Idee von kleinen sogenannten „Genesungshäusern“, welche sich wie Satelliten um eine Anstalt scharen sollten und für die Aufnahme kleiner Gruppen von psychisch Kranken vorgesehen waren, die dort arbeiten und leben sollten. Diese Idee, die wir heute Wohngemeinschaften nennen, war wohl für die damalige Zeit angesichts des hereinbrechenden 1. Weltkrieg noch zu neu.

Zunächst war aber mit dem Ausscheiden Georg Ludwigs 1897 die Blüte des Hilfsvereins noch nicht zu Ende. Sein Schwiegersohn Sebastian Bieberbach führte sein Werk bis 1915 fort. Zunehmend machten sich aber sozialdarwinistische Tendenzen als Vorboten der sog. Eutanasie in der psychiatrischen Landschaft breit und nach dem geradezu revolutionären Aufschwung der Psychiatrie während der Amtszeit Georg Ludwigs kam es zu einem fast genauso rapiden Rückgang der Irrenanstalt in Heppenheim und damit auch des Hilfsvereins während des ersten Weltkrieges.

Während der Kriegsjahre 1914 – 1918 setzte in allen Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands ein Massensterben ein. Hintergrund war die schlechte Verköstigung, der Abzug qualifizierten Pflegepersonals und qualifizierter Ärzte. Der nachfolgende ärztliche Direktor Dannemann, der das psychiatrische Handwerkszeug in Goddelau gelernt hatte, versuchte ein sinkendes Schiff über Wasser zu halten. Als er 1932 starb, übernahm ein überzeugter Nationalsozialist und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten den Direktorposten.

Über das Schicksal des Hilfsvereins in dieser Zeit ist wenig bekannt. Wir wissen aber, dass der Verein organisatorisch und inhaltlich unter den Druck der NS – Ideologie geriet. Beispielsweise musste er seine jährliche Wintersammlung wegen Konkurrenz zur NS-Volkswohlfahrt und NS-Winterhilfe verschieben und der damalige Ärztliche Direktor Dr. W. Schmeel versuchte den noch vorhandenen Vertrauensmännern die Arbeit des Hilfsvereins als Teil der NS-Erbgesundheitspflege schmackhaft zu machen.

In Ermangelung genauer Berichte muss vermutet werden, dass nach 1933 keine neuen Vertrauensmänner mehr gewählt wurden, und in Ermangelung präziser Namenslisten müssen wir annehmen, dass die letzten eigentlichen Mitglieder des Hilfsvereins längst verstorben sind.

Meine Amtsvorgänger wussten zwar, dass sie qua Amt Vereinsvorsitzenden waren. Eine Wiederbelebung des Vereines nach dem Krieg blieb aber zunächst aus.

Wie ich 1984 bei einer Überprüfung der Unterlagen als Kuriosum feststellte, war offenbar die Gemeinde Grünstadt in der Pfalz als juristische Person Mitglied in dem Verein und bezahlte bis in die 60er Jahre hinein auch brav Beiträge. Manchmal kann es eben auch ganz gut sein, wenn neuere Entwicklungen verschlafen werden.

In ähnlich gewissenhafter und bürokratischer Weise sorgte die alte Satzung des Hilfsvereines dafür, dass der Verein, obwohl er keine Mitglieder mehr hatte, immer noch das Restvermögen gut verwaltete. Das Vermögen wurde ordnungsgemäß im Heppenheimer Krankenhaus verwaltet und belief sich 1951 auf etwa 9.000,00 DM. 1954 versuchte der damalige Ärztliche Direktor Dr. Hinsen kleinere Beträge aus dem Vereinsvermögen für hilfsbedürftige Patienten und Patientinnen zu verwenden. Auch mein direkter Vorgänger, Dr. Luxenburger, tat dies.

Neben diesen eher sporadischen Aktivitäten, die eigentlich nur darin bestanden, vorhandenes Geld in kleinen Beträgen auszugeben, gab es bis 1984 keine weiteren Vereinsaktivitäten, mit Ausnahme des Versuchs einer Satzungsänderung im Jahre 1976, in der festgelegt werden sollte, dass im Falle der Auflösung des Hilfsvereins die einzelnen Patienten des Philipps-Hospitals Goddelau, des Psychiatrischen Krankenhauses Gießen und Heppenheim Nutznießer des Vermögens wären.

Dieser Versuch scheiterte aber an einem Rechtsgutachten des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, der feststellte, dass diese Beschlüsse des Vorstandes nichtig seien, denn der Verein sei mangels Mitglieder erloschen.

Gleichzeitig bat der Landeswohlfahrtsverband Hessen darum, den Verein in neuer Form, aber in Rechtsnachfolge des alten Vereines wieder zu beleben. Diese durchaus vernünftige Anregung wurde jedoch mit dem lapidaren Bescheid aus Heppenheim abgelehnt, man habe hierfür nicht das notwendige Personal. Über andere Gründe darf spekuliert werden. Fest steht jedenfalls, dass die Zeit weder für einen neuen Verein noch dessen heutige Aktivitäten einfach noch nicht reif war.

In den folgenden 8 Jahren geriet der Verein sowohl in Kassel als auch in Heppenheim in Vergessenheit. Bürokratische Mühlen mahlen aber gewissenhaft.

1984, als ich gerade einige Wochen in Heppenheim war, flatterte mir ein Schreiben des Finanzamtes auf den Tisch, in dem mitgeteilt wurde, man habe zwar bisher noch einmal schweren Herzens die Gemeinnützigkeit des Hilfsvereines für Geisteskranke in Hessen angesichts des ehrwürdigen Alters der Satzung anerkannt, geänderte gesetzliche Bestimmungen zur Gemeinnützigkeit ließen eine entsprechende Einschätzung nun aber nicht mehr zu. Ich möge mich doch bitte als Vorsitzender des Hilfsvereines auf einen größeren Steuerbescheid gefasst machen.

Manchmal bedarf es eben äußerer Anregung damit etwas, was im Inneren bereit liegt, Bahn bricht. Die Gründung eines irgendwie gearteten Vereines zur Verbesserung der damals schon anachronistischen extramuraler Möglichkeiten war für mich selbstverständlich. Nur hatte ich gehofft, erst einmal die Probleme des veralteten Krankenhauses in Ruhe lösen zu können. Rückblickend ist mir aber klar, dass man die Probleme der Psychiatrie immer innen und außen gleichzeitig angehen muss, denn es geht um die Menschen und nicht um die Frage, wer, wo zuständig ist.

Wir prüften damals also mit Hochdruck das alte Rechtsgutachten, meine liebe Frau erstellte ein neues Rechtsguthaben. Das Ergebnis war eindeutig, der Verein hatte zwar einen funktionierenden Vorstand, war aber mangels echter Mitglieder erloschen, hatte aber dennoch Geld. Es gingen noch einige Monate ins Land, in denen ich mit Landeswohlfahrtsverband und Steuerbehörde versuchte, eine Lösung zu finden.

Es ist dem inzwischen verstorbenen Herrn Mai und unserer jetzigen ersten Vorsitzenden Frau Hannelore Möllenhoff sowie der damaligen Sprecherin unserer Sozialarbeiter, Frau Buff, hoch anzurechnen, dass sie den Gedanken einer Neugründung des Hilfsvereines bereits nach kurzem Gespräch aktiv aufgriffen. Rasch war ein Team gebildet. Jeder brachte seine Erfahrung ein. Im gemeinsamen Gespräch und unter Mithilfe meiner Frau entwarfen wir eine neue Satzung, die im wesentlichen bis heute Bestand hat.

Die alte Satzung des Hilfsvereins diente als Grundlage. Alles was nicht mehr zeitgemäß war, wurde verworfen. Die Grundprinzipien, die sich auch heute noch in unserer Präambel finden, blieben aber erhalten. Die ursprüngliche Dominanz des Psychiatrischen Krankenhauses wurde zugunsten einer weniger engen Anbindung verändert.

Am 18. November 1985 war es dann soweit. Die Satzung war vorbereitet, mit dem Landeswohlfahrtsverband das Grundsätzliche besprochen, das voraussichtliche Plazet der Steuerbehörde eingeholt, die Gründungsversammlung des Vereins fand statt. Dem Aufruf zur Gründung eines Vereines folgten 22 Menschen, vorwiegend Mitarbeiter der Klinik, aber auch Freunde des Psychiatrischen Krankenhauses aus dem Kreis unserer Laienhelfer und ein Vertreter der Evangelischen Kirchengemeinde.

Wie immer bei solchen Angelegenheiten, wenn es dann um die Übernahme von Pflichten und Arbeit ging, blieben von den 22 Versammlungsmitgliedern nur 12 übrig, die den Verein gründeten. Frau Buff war bereit den ersten Vorsitz zu übernehmen, Frau Möllenhoff übernahm den zweiten Vorsitz, den sie lange Jahre beibehielt. Kassenwart war Herr Kunkel und Schriftführer Herr Mai. Meine Frau und ich übernahmen die Positionen der Beisitzer. Auf diese Weise war sowohl die psychiatrische als auch die juristische Beratung kostenfrei sichergestellt.

Dem Landeswohlfahrtsverband und der Steuerbehörde konnte nun mitgeteilt werden, dass es für den Hilfsverein für Geisteskranke in Hessen einen Rechtsnachfolger gibt. Das Amtsgericht Bensheim bestellte Herrn Mai als Vermögenspfleger des alten Hilfsvereins. Dieser übertrug in Anerkennung der Geschichte des alten Vereins das Vermögen zu gleichen Teilen den inzwischen auch an den beiden anderen Krankenhäusern Gießen und Goddelau gegründeten Nachfolgevereinen.

Unser Verein, der sich damals noch Förderkreis e. V. nannte, hatte sein Startkapital und entwickelte nun mit Feuereifer erste Ideen, wie dieses Geld sinnvoll angelegt werden könnte. Die Vermögensübertragung zog sich dann allerdings noch über etwa ein Jahr hin. In dieser Zeit wurde der Name des Vereins, in psychosozialen Hilfsverein umbenannt, um unnötige Konkurrenz mit einem Förderverein in Bensheim zu vermeiden. Nachdem aber die Vermögensübertragung abgeschlossen war, war auch der Gedanke gereift, den psychosozialen Hilfsverein ganz entschieden als Trägerverein für extramurale psychiatrische Institutionen zu nutzen und aus den Diskussionen der folgenden Jahre entwickelte sich eine Betriebsphilosophie, der wir uns auch heute noch verpflichtet fühlen.

Hierzu gehört u. a., nicht in größerem Umfang in Feldern tätig zu sein, die durch vorhandene Strukturen abgedeckt sind, sondern mit wachsamem Auge den Bedarf im Sinne von Bedürftigkeit der psychisch Kranken zu verfolgen und im Sinne einer Vorreiterrolle jene Institutionen zu gründen, die es noch nicht gibt, für die keine ausgetretenen Pfade organisatorischer Strukturen existieren und für die zumindest in unserer Region Neuland betreten werden muss.

Dies war damals vordringlich eine Ergänzung zu der bestens funktionierenden Achse Heppenheim-Asbach durch die Gründung kleiner Wohngemeinschaften.

Als ich 1984 hier anfing, gab es noch über 250 chronisch psychisch Kranke, die als schwer enthospitalisierbar galten, und so lag es zunächst nahe, eine Wohngemeinschaft für jene Patienten zu gründen, die schon sehr viele Jahre im Krankenhaus waren und die keine originäre Heimat außerhalb des Krankenhauses mehr hatten.

Glückliche Umstände, genauer gesagt, ein entschiedenes soziales Engagement der Besitzerin, ermöglichten es uns, das Haus in der Ernst-Ludwig-Promenade zu mieten. Mit viel Engagement und Eigenhilfe wurde das Haus renoviert und möbliert. Die einen steuerten ihre Arbeitskraft bei, die anderen die Tapeten oder den Teppichboden, wieder andere die Möbel.

Es war ein Wagnis, das funktionieren musste, von dessen Gelingen die Zukunft des Vereines abhing, und so war es beispielsweise ganz selbstverständlich, dass die Vorstandsmitglieder rund um die Uhr erreichbar waren, um Krisenmanagement zu betreiben. Es ist dem Einsatz der Mitglieder und nicht zuletzt auch unserem ersten hauptamtlichen Mitarbeiter, Herrn Ulbrich, zu verdanken, dass alles funktionierte.

Sicherlich waren Kinderkrankheiten durchzustehen. Aus einem provisorischen Büro, welches eigentlich eher eine Ecke in irgendeiner Schreibtischschublade der Vorstandsmitglieder war, und der Klinikbibliothek als Tagungsraum, wurde ein erstes richtiges Büro in einem kleinen Ladenlokal. Wir hatten nun wenigstens eine eigene Adresse, einen eigenen Telefonanschluß und den ersten festangestellten Mitarbeiter.

Nachdem dann aber die erste Wohngemeinschaft funktionierte, wurde schnell deutlich, dass die Finanzen professionell bewirtschaftet werden mussten. Es gelang uns, einen jungen aufstrebenden Bankangestellten, Herrn Fuhrmann, zu finden, der sein Wissen einbrachte und der bis heute unser Kassenwart ist. Er ordnete in mühsamer Kleinarbeit unter tatkräftiger Mithilfe von Frau Metzendorf, die heute stellvertretende Geschäftsführerin ist, die Finanzen, lotete unsere Möglichkeiten und insbesondere unseren Kreditrahmen aus. Herr Fuhrmann war viele Jahre unser wirtschaftlicher Geschäftsführer und fand sein nicht minder tüchtiges für die Pendent in unserer Therapeutischen Geschäftsführerin, Frau Späthe-Otto.

Mit dieser Neukonstellation im Team ging es in Meilenschritten weiter. Das Haus, in dem wir uns jetzt befinden, wurde gekauft. Die Tagesstätte eingerichtet. Das Haus in der Karlstraße kam hinzu. Die Aufgaben wuchsen und damit auch der Mut, sich an Projekte zu wagen, die nicht unbedingt aller Zustimmung fanden, z. B. die Wohngemeinschaft für Methadonsubstitutierte im Gebäude der Karlstraße.

Inzwischen haben wir uns entschlossen, Frau Bechthold zur hauptamtlichen Geschäftsführerin zu machen. Eine neue Ära kann beginnen. Wir gehen davon aus, dass in dieser Kombination von Professionalität und ehrenamtlichen Engagement die Zukunft des Vereines und seiner Projekte liegt.

Aus meinem historischen Überblick haben sie unschwer entnommen, dass die Geschichte der Psychiatrie, wie überhaupt Geschichte, in Zyklen verläuft. Die Psychiatrie befindet sich derzeit nicht mehr im Aufwind, sondern allenfalls in einer Plateauphase. Der Abschwung ist zu befürchten und zeichnet sich dem Kundigen schon in groben Zügen ab. Ich gehe davon aus, dass Sie Interesse daran haben, dass dieser Abschwung nicht wieder so schlimm wird wie die vorigen. Lassen Sie uns dafür zusammen stehen. Jeder in seiner Aufgabe und an seinem Platz, lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft der Psychiatrie im Kreis Bergstraße gestalten.